Eiswinter, Ente oder vom falschen Strauch geraucht?

Steht uns ein Eiswinter bevor? Kai Zorn kann sich aufgrund des ein oder anderen "journalistischen Ergusses" nur an den Kopf greifen. Hier ist seine Abrechnung - und Aufklärung.

Veröffentlicht: Di 01.11.2016 | 00:00 Uhr
Eiswinter, Ente oder vom falschen Strauch geraucht?

Irgendwie bin ich mich noch immer ein wenig am "Sammeln". Wie Sie wissen, beschäftige ich mich gerne und sehr viel mit den Hintergründen unseres Wetters, von Großwetterlagen und unseres Klimas. Gerade längerfristige Prognosen oder Zusammenhänge von Großwetterlagen bergen die Gefahr, dass man sich "verliert", verliert in Chroniken, Statistiken, Archiven, etc. Erinnern Sie sich an die Prognose für die 2. Herbsthälfte von vor gut 2 Wochen? Da habe ich kurz grob die wahrscheinlichsten Wetterlagen des Novembers beschrieben: Es wird eine tiefdruckgeprägte Mischung aus Südwest- bis Nordlagen, aus milderen und kälteren Phasen mit einer taumelnden Schneefallgrenze zwischen 500 und 1500 Meter Höhe, je nach Luftmasse; auf alle Fälle weg vom Hochdruck.

Ich wurde gefragt, wie ich auf diese Prognose käme oder ob das einfach nur dahergesagt sei. Wie bei allen Einschätzungen über Monate und/oder Jahreszeiten werte ich im Vorfeld einer Kolumne Statistiken und Karten aus, suche ähnliche Jahre und/oder Großwetterlagen und klicke mich dann durch die Wetterkartenarchive, um gewisse Muster oder Ähnlichkeiten zu finden. Das ist gar nicht so einfach, denn manches Mal sehen die Wetterlagen zu einem Zeitpunkt x identisch aus und danach folgten zwei völlig unterschiedliche Witterungscharaktere. Es ist eine Sisyphos-Arbeit sondergleichen und eine Art Stecknadelsuche im Heuhaufen. 

Viele Recherche- und Analysestunden für eine Prognose

Allein für die Prognose für den November gingen viele Stunden, wenn nicht Tage drauf. Genauso ist es für die Einschätzung des Winters 2016/17. Mit dieser beschäftige ich mich schon sehr lange und vor allem intensiv, weil es einfach in diesem Jahr so unglaublich spannend ist.

Und da beschäftigt man sich von "Amtswegen" her also mit dieser Materie und dann blättert man kurz durch Facebook und sieht eine Eiswinter-Prognose nach der anderen. Kennen Sie noch die Szenen von Bud Spencer und Terence Hill, als die den Gaunern was auf die Ömme gegeben haben? Da dachte ich mir, dass das bei manchen Redakteuren, die solch einen Unfug schreiben, nicht schaden könnte - im Gegenteil. Vielleicht würde sich die ein oder andere Synapse mit einer anderen anfreunden und es käme etwas Gehaltvolleres heraus.

Journalistischer Unfug

Da las ich; Zitat 1: "Der Herbst war bisher viel zu kalt." Ich würde eher sagen, dass der Autor dieser Aussage vom falschen Strauch geraucht hat. Der Herbst besteht aus den Monaten September, Oktober und November - rein meteorologisch. Und selbst wenn man den kalendarischen Herbst nehmen würde, so war da immer noch ein Stück des Septembers drin. Und dieser brach Rekorde. Es war ein sonnig-trocken-heißer Monat mit hochsommerlichen Allüren. Der Oktober war ein bisschen zu kalt, ja, wahrscheinlich um 0,5 Grad zu kalt. 

Nach ein paar Atemübungen zur inneren Beruhigung fand ich die nächste Stilblüte mit Kurzschluss bei den Synapsen in einem anderen Artikel; Zitat 2: "... einen ähnlich schneereichen und sibirischen Winter wie 2012/13". Der Winter 2012/13 war bis Januar überdurchschnittlich mild und erst der Februar wurde kälter. Im Gesamtmittel gab es die berühmte Schwarze Null bzw. ein Plus von 0,1 Grad. Der März war kalt, ja. Mit einer Durchschnittstemperatur von 0,1 Grad war es der kälteste März seit 1987 (-0,4 Grad). Die eisigsten März-Monate stammen aus der auslaufenden Kleinen Eiszeit von 1785 und 1845 mit jeweils -3,7 Grad. 

Schneereicher und sibirischer Winter?

Für diese beiden Aussagen müsste es wirklich was auf die Ömme geben, denn das hat mit Journalismus und Recherche nichts zu tun. Das sind nicht einmal die Buchstaben wert, die dafür benutzt wurden - beschämend, einfach beschämend. Mit wenigen Minuten Recherche kann das ein 10-jähriges Kind besser. In diesen Artikeln wird ein Eiswinter prophezeit "Winter 2016 extrem". Als Begründung wird der Polarwirbelsplitt hergenommen. Nach dem Durchlesen einiger dieser Artikel kann man zusammenfassend sagen: Durch den Splitt des Polarwirbels und den viel zu kalten Herbst bisher wird es schneereich und sibirisch. 

Wenn das so einfach wäre... Lehnen wir uns mal zurück, atmen tief durch und schauen das Ganze mal faktisch an und gehen mal alle Punkte durch, alle Pros und Contras für und gegen einen milden oder kalten Winter:

Was spricht für mild?

Viele Modelle. Die NOAA sieht einen extrem milden Winter, einen sogenannten Supermildwinter. Mein Kollege Hartmut Mühlbauer wird in dieser Woche bei wetter.com noch näher darauf eingehen. Ein viel zu warmer September ist in der Regel ein Indiz für einen (viel) zu milden Winter. Und der September war warm; es war der wärmste September seit 1761 zusammen mit 2006.

Die Kombination warmer September, kalter Oktober ist ein weiteres Indiz für einen milden Winter.

Der Vorwinter war warm, das Jahr war insgesamt warm, der Sommer war warm. Strenge Winter entstehen gerne in kühlen Phasen mit eher kalten Vorwintern. Sollte der November schon winterlich werden, so wäre das auch fast zu 100% der "Todesstoß" für den Winter. Wie besagen doch die Bauernregeln: "Friert im November zeitig das Wasser, wird es im Januar umso nasser." Der frühe Laubfall. Die Bäume sind binnen kürzester Zeit bunt geworden und haben teilweise ihr Laub schon abgeworfen. Früher Laubfall ist nach den Witterungsregeln ein Indiz für einen milden Winter.

Was spricht für kalt?

Der Bruch. Der Bruch der Großwetterlagen ist schon bemerkenswert. So etwas gab es beispielsweise auch 1946. Der Winter, der da folgte, war einer der kältesten des vergangenen Jahrhunderts bzw. seit 1761. 2016 hat hier verblüffend viele Ähnlichkeiten. Die Meereisausdehnung in der Arktis. Am Nordpol ist es 10 Grad zu warm, während Sibirien momentan schockgefrostet wird. Die derzeitige Zirkulation tendiert schon eher richtig kalt bis streng; die Betonung liegt aber auf "derzeitig".

Das sind mal so die groben Gründe. Natürlich gibt es noch viel mehr und viel detaillierte, doch dann können wir damit anfangen ein Buch zu schreiben ;).

Zweifelhafte "Naturbeobachter" sind sich uneinig

Das Pro und das Contra spiegelt sich auch bei "Naturbeobachtern" wieder. Der Typ mit der Wetterkerze aus Oberbayern sieht einen Mildwinter ohne Schnee. Und die "Innerschwyzer Wetterschmöker" sehen einen schneereichen und strengen Winter. Der Wetterkerzige sagte für den vergangenen Winter einen Jahrhundert- bzw. Jahrtausendwinter (kalt) voraus. Die Wetterschmöker lernte ich persönlich im Juni 2013 beim "Gipfeltreffen der Wetterfrösche" in Tirol kennen. Damals sagten sie einen trockenen und sehr warmen Hochsommer voraus. (Das kam auch so, soll aber jetzt bitte keine Wertung sein.)

Das mit den Jahreszeitenprognosen ist so eine Sache. Es gibt Kollegen, die meinen, dass das überhaupt nicht möglich sei. Diese Aussage finde ich persönlich genauso unseriös wie zu sagen, dass das immer möglich sei. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen in einem Labyrinth. Ein Labyrinth, das mal besser, mal schlechter zu durchschauen ist. 

Noch nicht klar, wie der kommende Winter wird

Für den Winter 2016/17 ist noch gar nichts entschieden - weder in die eine noch in die andere Richtung. Wir leben in einer Zeit- bzw. Klimaepoche, in der es kalte Phasen schwer haben. Es ist bei uns so warm wie seit über 2000 Jahren nicht mehr. Wir haben das Mittelalterliche Wärmeoptimum getoppt. Warmzeiten schließen eisige Winter ebenso wenig aus wie Kaltzeiten heiße Sommer. 

Aber JETZT, Stand heute, können wir uns "nur" auf das berufen, das wir eben besprochen haben. Momentan ist es am Nordpol viel zu warm mit rekordwenig Eis. Aber das Eis wird in der langen Polarnacht kommen und die Kälte in der Nordhemisphären nimmt tagtäglich zu. Das jetzige Strömungsmuster ist nicht in Stein gemeißelt; stellen wir uns das mal so vor: Wir haben einen kleinen Bach (Eisluft), der in ein Becken fließt, das wie eine Sandburg begrenzt ist. An einer Stelle fließt das Wasser (Kälte) ab. An anderen Stellen schwappt das Ganze ein bisschen über. Nun wird der Bach Tag für Tag kräftiger und es fließt immer mehr Wasser in das Becken und schwappt an mehreren Stellen über und es entstehen neue Abflüsse. Dadurch kann in den kommenden rund 6 Wochen ein völlig anderes Bild entstehen und das Zirkulationsmuster kann sich gänzlich umstellen - denn: Wenn der Abfluss zwischen Kanada und Grönland losgeht und ein Atlantik-Tief anfacht, ist Schluss mit Strengwintergedöns.

Wahrscheinlichkeit eines Mildwinters wesentlich höher

In den stümperhaften Artikeln wurde, wie schon erwähnt, der "viel zu kalte Herbst" als Referenz hergenommen. Nehmen wir mal nur den sonnenscheinarmen Oktober, der seine Vorgänger 1998 und 1974 hat, so finden wir dort 1998/99 den Mild- und Lawinenwinter in den Alpen mit strammen Nordwestlagen im Februar und den bis dato geltenden Supermildwinter 1974/75, dem Vorgänger des neuen Supermildwinters 2006/07. 

Aus realistischer Sicht ohne Wunschdenken und ohne Sensationsgelüste wird das mitnichten ein kalter, schneereicher und/oder strenger Winter. Die Wahrscheinlichkeit, dass uns ein weiterer (Super)Mildwinter bevorsteht, ist um ein Vielfaches höher. So die (meisten) Regeln. Aktuell sind nur die sogenannten Ausnahmen der Regeln erstens verblüffend zahlreich und zweitens verblüffend markant - und genau das macht das Ganze in diesem Jahr so interessant...

Zum Schluss noch etwas Interessantes am Rande: Ein eisiger und kalter November bringt in der Regel keinen kalten Winter nach sich - Ausnahme: Handelt es sich um einen Großwinter, so werden alle Regeln außer Kraft gesetzt. So geschehen beim kältesten Winter seit 1761: Im Vorfeld des größten Eiswinters der Neuzeit aus dem Jahre 1829/30 gab es nach einem recht kalten August einen "normalen" September, einen Absturz im Oktober und einen winterlichen November - und es folgte ein Winter, der für uns heute unvorstellbar ist mit einer Durchschnittstemperatur von -6,6 Grad. Der weiter oben zitierte "sibirische Winter 2012/13" lag bei 0,3 Grad...

Südosthälfte und Alpen bekommen viel Schnee ab

Mal ganz abgesehen von etwaigen Winterdiskussionen erleben wir derzeit - auch was die kommenden Wochen angeht - endlich mal eine ganz normale, der Jahreszeit entsprechende Witterung mit Wolken, Wind, Sonne, Regen und Schnee. Außerdem kommen für die Natur teilweise gute Niederschlagsmengen dazu, die wir auch brauchen, denn die totgeschwiegene Trockenheit durch August und September und teilweise Oktober ist noch nicht vom Tisch. Während die Gebiete rund um Niedersachsen und NRW recht wenig Regen und Schnee bekommen werden, werden die Südosthälfte und der Alpenraum mit Regen und Schnee zugeschüttet. Massive Unwettergefahr besteht jedoch auf der Alpensüdseite bis zum Balkan runter. Dazu an anderer Stelle dann mehr.  

Schönen Novemberstart :)!

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